musikalisches Geschichtsbewusstsein bei Monteverdi

musikalisches Geschichtsbewusstsein bei Monteverdi
musikalisches Geschichtsbewusstsein bei Monteverdi
 
Stil, seit der römischen Rhetorik definiert als die Art des Schreibens oder des Redens, war bis 1600 einfach die »maniera di comporre«, die Art des Komponierens. Claudio Monteverdi stellte nun im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch 1605 neben diese »Prima pratica« eine »Seconda pratica«, eine zweite Art des Komponierens, und schuf damit ein neues Ordnungssystem der Musik. Seine Differenzierung bezog sich im Wesentlichen auf die Behandlung des Textes; in der traditionellen Musik ließ die Textdeutlichkeit aufgrund der kontrapunktischen Vermischung der Stimmen oft zu wünschen übrig. In der aus der prima Pratica abgeleiteten Seconda pratica hingegen erhielt der Text gegenüber der Musik ein sehr viel stärkeres Gewicht. Die Umsetzung eines Textes in Musik erlaubte nun ein bewusstes Abweichen von den kontrapunktischen Regeln. Die alte Musik behielt unter diesen Voraussetzungen ihre Berechtigung, ja war im liturgischen Bereich weiterhin maßgebend; die neue Musik konnte sich parallel dazu schnell etablieren und bildete quasi den musikalischen Gegenpol zur Prima pratica. Bei der Diskussion, welcher Musikpraxis der Vorrang zukomme, gab es Befürworter für den Ersatz der einen durch die andere Praxis. Andere jedoch, wie auch Monteverdi selbst, wollten beide Arten alternativ gelten lassen. Problematisch war vor allem die Frage, ob und wie in der Kirche die Prinzipien der Seconda pratica zum Tragen kommen durften. Denn bei der Bemühung um eine Reform der Kirchenmusik hatte das Konzil von Trient (1545 bis 1563) die Messen Giovanni Pierluigi da Palestrinas zum Muster erhoben und damit den Stil der liturgischen Kompositionen festgeschrieben.
 
Der lange Zeit in Warschau wirkende Komponist und Musiktheoretiker Marco Scacchi führte 1649 die für die zweite Hälfte des 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts grundlegende Stildreiteilung in »Stylus ecclesiasticus« (Kirchenstil), »Stylus cubicularis« (Kammerstil) und »Stylus scenicus seu theatralis« (Theaterstil) ein und gab zudem auch die stilistischen Möglichkeiten innerhalb dieser Kategorien an: Der Kirchenstil etwa solle sich nicht auf A-capella-Kompositionen (»Palestrina-Stil«) beschränken; aus der Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Stile nämlich erwachse eine durchaus erstrebenswerte Mannigfaltigkeit: »Ich sehe keine Notwendigkeit, die Musik einzig auf den Palestrina-Stil zu reduzieren. .. Denn die musikalische Kunst könnte so reich sein an vielfältigen unterschiedlichen Stilen, wie sie fast in der ganzen Welt komponiert werden, dass es ein Wunder wäre.«
 
Durch eine gezielte Stilvermischung hatte der Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts einerseits die Möglichkeit, mithilfe des modernen Stils dem Anspruch auf Darstellung der Affekte nachzukommen und somit recht subjektiv den Text musikalisch umzusetzen; andererseits konnte er aber auch auf die alten Kontrapunkttechniken zurückgreifen und primär das Einzelwort — weniger den Affekt — tonmalerisch umsetzen. Derartige Kontrastierungen konnten natürlich sehr differenziert genutzt werden. Mitunter wechseln einzelne Sätze in je unterschiedlichem Stil miteinander ab, andere Male durchdringen die Satzstile einander in ein und demselben Satz.
 
Zur Vermischung der Stilebenen trug außerdem bei, dass nach Scacchi nicht nur mehrchörige Werke, die eine große Prachtentfaltung ermöglichten, sondern auch die Motette im modernen Stil, die aufgrund des Wechsels von Rezitativ und Arien der weltlichen Kantate weitgehend entsprach, in der Kirche verwendet werden durften.
 
Die Mehrchörigkeit bedingte aber auch eine Umgewichtung: Die kontrapunktische Gestaltung trat zu Gunsten einer breiteren Harmonik zurück, eine Entwicklung, die sich bereits im Werk Giovanni Gabrielis abgezeichnet hatte. Außerdem konnten begleitende Instrumentalstimmen hinzutreten, was weitere klangliche Differenzierungen erlaubte. Dass bei derartig großbesetzten Werken einige Regeln der Kontrapunktik außer Kraft gesetzt werden — wie die bis dahin verbotene Parallelführung einzelner Stimmen im Einklang oder in Oktavparallelen —, wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern als Mittel zur Prachtentfaltung gezielt genutzt.
 
Im Deutschland des 17. Jahrhunderts wurden ebenfalls verschiedene Stilarten unterschieden. Christoph Bernhard, ein Schüler des stark an Venedig orientierten Heinrich Schütz, unterteilte sie in seinem »Tractatus compositionis augmentatus« in »Stylus gravis« (oder auch »Stylus antiquus« - ernsten bzw. alten Stil) und »Stylus luxurians« (oder »Stylus modernus« - ausschweifenden beziehungsweise neuen Stil). Im Stylus gravis dominiert die Musik über das Wort; er ist gekennzeichnet durch langsame Bewegung und wenig Dissonanzen. Der Stylus luxurians teilt sich in zwei Unterarten: Der Stylus luxurians communis, zu dessen Hauptvertretern Bernhard Monteverdi und Schütz zählt, wird für Vokalstücke in Kirche und Kammer ebenso wie für Sonaten verwendet und zeichnet sich durch einen freieren Dissonanzgebrauch sowie schnellere Bewegung aus. Musik und Wort kommt etwa gleiche Gewichtung zu. Der Stylus luxurians comicus hingegen wurde »erfunden, eine Rede in Musik fürzustellen«; dadurch dominiert das Wort über die Musik. Hauptvertreter dieser auch als Stylus theatralis oder recitativus bezeichneten Musik ist wiederum Monteverdi. Einen deutschen Musiker sucht man bei den Vorbildern für diesen Stil indes vergeblich.
 
Dr. Reinmar Emans
 
 
Braun, Werner: Der Stilwandel in der Musik um 1600. Darmstadt 1982.
 Leopold, Silke: Claudio Monteverdi und seine Zeit. Laaber 21993.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Monteverdi — Montevẹrdi,   Claudio Zuan (Giovanni) Antonio, italienischer Komponist, getauft Cremona 15. 5. 1567, ✝ Venedig 29. 11. 1643; war 1582 90 in Cremona Schüler von M. A. Ingegneri und seit 1590 im Dienst der Gonzaga in Mantua (ab 1602… …   Universal-Lexikon

  • italienische Musik. — italienische Musik.   Im Konzert der europäischen Musik spielt die italienische Musik von Anbeginn bis heute eine hervorragende Rolle. Ihr Hauptmerkmal ist das gesangliche, melodische Moment. Zahlreiche Arten und Gattungen der Vokalmusik… …   Universal-Lexikon

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”